Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs wird die Sozialdemokratie bestimmende Kraft im Wiener Rathaus. 1922 wird Wien selbstständiges Bundesland. Damit ist der Grundstein für das "Rote Wien" gelegt. Neben Reformen im Gesundheits- und Bildungswesen wird 1923 ein umfangreiches Wohnbauprogramm gestartet, um für die einkommenschwachen Arbeiterinnen- und Arbeiterfamilien menschenwürdige Wohnungen mit niedrigen Mieten und viel Grün zu schaffen: hell, trocken, mit fließendem Wasser und Toilette in der Wohnung stehen diese in krassem Gegensatz zu den Bassena-Wohnungen in den Zinskasernen der Gründerzeit, wo Familien mit drei und mehr Kindern zusammgepfercht auf 25 m², Toilette und Wasser am Gang, wohnen und sich das Bett noch mit Fremden (den so genannten Bettgeherinnen und Bettgehern) teilen müssen. Rund die Hälte der Bewohnerinnen und der Bewohner der Stadt leben in solchen Einzimmer-Wahnungen mit fensterloser Küche. Die von Felix Salten verfasste Lebensgeschichte der Josefine Mutzenbacher zeigt drastisch das soziale und hygienische Elend, aber auch die sexuelle Ausbeutung in diesen Slumquartieren voll gestopft mit Armut von unten bis oben. Am meisten leiden die Kinder unter diesen Bedingungen, am Ende des Ersten Weltkriegs ist die Kindersterblichkeit in der Weltmetropole Wien eine der höchsten weltweit. Es verwundert also nicht, dass das Wohl der Kinder im Zentrum des (sozial-)politischen Programms steht, ihnen die größte Aufmerksamkeit und Hoffnung gilt auf dem Weg zu einem "neuen Menschen". Die Wohninfrastruktur der Stadt ist dem Ansturm der Zuzügler schon seit Ende des 19. Jahrhunderts nicht mehr gewachsen und bricht infolge des Weltkriegs völlig zusammen. Mehr als zwei Millionen Menschen drängen sich in der Stadt (damals noch kleiner als heute), am Höhepunkt des Kriegs 1917 waren es zwischen 2,3 und 2,7 Millionen Einwohnerinnen und Einwohner. Die christlichsoziale Stadtregierung (vielfach oft kleinbürgerliche Zinshausherren) kann oder will an der Situation nichts ändern, die Stadtregierung unter Bürgermeister Richard Weiskirchner (während der Amtszeit von Karl Lueger ist er dessen Magistratsdirektor) scheitert und wird 1919, nachdem nun alle Wahlstimmen gleich zählen, schließlich abgewählt.

An die Macht kommt nun die sozialdemokratische Arbeiterpartei, die den Wohnbau in den Mittelpunkt ihrer Sozialpolitik und Programmatik stellt. Es entstehen regelrechte "Paläste des Proletariats", die den guten Ruf der Stadt bis heute begründen, weithin sichtbare Zeichen der neuen demokratischen Verhältnisse, des Aufbruchs in die neue Zeit der "Volksherrschaft", in der nicht mehr nur eine privilegierte Klasse über die Mehrheit der Menschen herrscht, sondern alle teilhaben können an den sozialen Errungenschaften. Bis zu 60 Prozent der Wählerinnen und Wähler geben der neuen sozialdemokratischen Stadtregierung ihre Zustimmung für die Reformen.

Anstatt der versprochenen 25.000 errichtet die sozialdemokratische Stadtregierung zwischen 1923 und 1934 rund 63.000 neue kommunale Wohnungen und setzt sich damit selbst ein Denkmal. Denn "Wenn wir einst nicht mehr sind, werden diese Steine für uns sprechen." Mit diesen Worten eröffnet Bürgermeister Karl Seitz am 12.10.1930 den Karl-Marx-Hof in Heiligenstadt.

Die Wohnungen sind mit rund 40 m² zwar noch immer sehr klein, aber funktional gut durchdacht. Zwar gibt es Fließwasser und Toiletten in jeder Wohnung, doch vieles soll zentral erledigt werden: Gemeinschaftseinrichtungen wie Tröpferl- und Wannenbäder sowie Zentralwäschereien sind wesentliche Bestandteile der neuen Wohnhausanlagen; in manchen gibt es sogar Zentralküchen. Weitere gemeinsame Nutzungen sind Kindergärten, Mütterberatungsstellen, Ambulatorien, Tuberkulosestellen, Turnhallen, und Bibliotheken.

Damit können trotz neuem "Luxus" die Mieten niedrig und deutlich unter dem Niveau der verslumten Zinskasernen gehalten werden. Untervermietungen zur Deckung der hohen Mietkosten fallen weg und schaffen Privatheit, die sich auch positiv auf das Kindeswohl auswirkt. Finanziert wird das ehrgeizige Bauprogramm durch die vom Länderbank-Direktor Hugo Breitner ersonnenen Wohnbausteuern, Nachdem Wien von Niederösterreich abgetrennt und zum eigenständigen Bundesland mit Finanzhoheit wird, kann Breitner ein nach Einkommen gestaffeltes Kommunalsteuersystem einführen, Luxussteuern, die dafür sorgen, dass zwei Prozent der Vermögenden mit ihren Abgaben Wohnungen für 500.000 arme Menschen finanzieren,

Architektonisch orientieren sich die "Volkswohnpaläste" oft an der Konzeption herrschaftlicher Schlösser. Damit soll einerseits das neue Selbstbewusstsein der proletarischen Klasse demonstriert, andererseits bei seinen Bewohnerinnen und Bewohnern geweckt werden. Gerade der von Karl Ehn gestaltete Karl-Marx-Hof ist das "Versailles des Roten Wien", mit seinen gigantischen Ausmassen von rund 1,2 Kilometer Länge (längste kommunale Wohnanlage der Welt) und dem riesigen Ehrenhof übertrumpft er sogar das französische Königsschloss. Damit ist den Verantwortlichen des "Roten Wien" gelungen, was dem habsburgischen Herrscherhaus immer verwehrt blieb. Imposant ist auch das Entree zum Ehrenhof mit den Rundbögen von mehr als 16 Metern Spannweite; sie ermöglichen, dass auch große Menschenmassen ohne Behinderung vom Bahnhof Heiligenstadt zum Stadion Hohe Warte gelangen können (das damals größte Fussball-Stadion Kontinentaleuropas konnte mehr als 80.000 Personen fassen). Der Karl-Marx-Hof bietet mit 1.325 Wohnungen, zahlreichen Geschäften, Lokalen und Gemeinschaftseinrichtungen Platz für 5.500 Menschen. Doch all diese Qualitäten des Karl-Marx-Hofs ist den Besucherinnen und Besuchern aus dem In- und Ausland wohl mehr bewusst als den Bewohnerinnen und Bewohnern selbst.

(c) Wagner Werk Museum Postsparkasse, Reumannhof
(c) Wagner Werk Museum Postsparkasse, Reumannhof

Auf den ersten Bliick wirken viele der kommunalen Wohnbauten schmucklos und minimalistisch, aber gerade darin liegt ihre beeindruckende Ästhetik, die sich in den vom Jugendstil, aber auch von bürgerlichen Werten geprägten Details der Handwerkskunst und ihren Fertigkeiten entfaltet, in den schmiedeeisernen Toren, den Skulpturen und Vasen.

Die Bauten des "Roten Wien" sind die monumentale Anti-These zur bürgerlichen Standplanung der Ringstraßen-Ära und gelten international als Vorbilder für soziales Wohnen. Nirgends lässt sich dies kompakter beobachten als am Gürtel zwischen Matzleinsdorfer Platz und dem Wiental, der "Ringstraße des Proletariats". Hier entstand auch der erste Gemeindebau Wiens, der Metzleinstaler Hof, dessen erster Bauteil am Gürtel von Robert Kalesa noch ganz in der Tradition gründerzeitlicher Zinshäuser errichtet wird. Mit dem zweiten Bauabschnitt wurde der Otto-Wagner-Schüler Hubert Gessner beauftragt, der als persönlicher Freund von Viktor Adler bereits einige sozialdemokratische Prunkbauten errichtet hat (Arbeiterheim Favoriten, Vorwärts-Gebäude, Eisenbahnerheim,). Er entwirft hier den Prototypus des Wiener Gemeindebaus: Licht, Luft und Hygiene sind die Leitmotive, begrünte Innenhöfe statt dunkler Hinterhöfe stehen im Mittelpunkt; mit ihnen schafft Gessner einen halböffentlichen Raum, Orte der Begegnung und der künstlerischen Manifestation; die (Handwerks-)Kunst wird zu einem wesentlichen Bestandteil des Gemeindebaus. Später plant Gessner auch den Reumannhof an der "Ringstraße des Proletariats"; ein 180 Meter langer Bau entlang des Gürtels, der die Kraft des "Roten Wien" demonstriert; ein 16 Stockwerke hoher Mittelblock hätte den Bau krönen sollen, doch er wird von der verantwortlichen städtischen Bauabteilung auf neun Etagen reduziert. Dennoch vermag die markante Dachgestaltung die Kraft der Sozialdemokratie zu versinnbildlichen. Ins Auge fallen auch die schmucken Details, die dem Recht der Arbeiterinnen und Arbeiter auf Schönheit (wie Victor Adler es formuliert hat) zum Durchbruch verhelfen: neben Jugendstilelementen sind diese vor allem die barockisierenden Puti-Figuren vor dem zentralen Kindergarten im Ehrenhof und die Bautafel über einem der Zugänge zu den beiden Seitenhöfen aus Majolika-Keramik. Josef Frank kritisiert diese "heroischen Fassaden", hinter denen sich doch nur Kleinstwohnungen ducken, und stellt mit dem Leopoldine-Glöckel-Hof auf der anderen Seite des Gürtels einen nur durch die Farbgestaltung und durch Balkone gegliederten Wohnbau nicht nur architektonisch gegenüber.

Höhepunkt des Schaffens von Gessner ist der zwischen 1926 und 1933 errichtete Karl-Seitz-Hof in Floridsdorf mit 1.173 Wohnungen. Hier verwirklicht er die Vorstellungen seines Lehrers Otto Wagner von Symmetrie und Harmonie: um eine als Hauptstraße angelegte Zentralachse gruppieren sich zahlreiche Innenhöfe und platzartige Kreuzungen; eine kreisförmige Arena mit neunstöckigem Uhrenturm schließt sie ab. Kunstgewerblicher Bauschmuck wie Vasen und Keramikelemente runden das Bild ab.

Weitere Höhepunkte des "Roten Wien" sind der Sandleitenhof in Ottakring und der Rabenhof in der Landstraße. Beim Sandleitenhof schaffen mehrere Architekten die Anmutung einer gewachsenen Stadt mit aller erforderlicher Infrastruktur, über ein Gebiet von nahezu 100.000 m², die nur zu einem Drittel verbaut sind, verteilen sich die Gebäude wie Villen. Der von Heinrich Schmid und Hermann Aichinger entworfene Rabenhof orientiert sich am Ideal der mittelalterlichen Stadt; traditionelle, kleinstädtische Motive, Erker und ineinander verschobene Bauteile vermitteln diesen Eindruck.

Trotz einer Vielzahl architektonischer Gestaltungen lassen sich Gemeindebauten der Zwischenkriegszeit sofort als solche erkennen. Das liegt nicht nur an den mächtigen Aufschriften, sondern auch an den großzügigen Grünflächen: mindestens 50 Prozent müssen es sein, rund 70 Prozent sind es in den meisten Fällen. Das gilt auch in den Nachkriegsjahren bis in die späten 1980er Jahre, wenngleich von der Idee der Randverbauung um einen zentralen Innenhof abgewichen wird; damit öffnen sich die riesigen Freiflächen der Wohnhausanlagen nach außen, doch damit dringt auch der Straßenlärm der zunehmenden Motorisierung tief in sie ein. Zuletzt wird bei einigen Prestigeobjekten das Grün anderen Nutzungen aber geopfert: so muss es beim "Gasometer" einem Einkaufszentrum und Parkgaragen weichen.

Literatur

Kriechbaum, Gerald | Kriechbaum, Genoveva: Karl-Marx-Hof; Versailles der Arbeiter; Wien und seine Höfe. Wien: Holzhausen Verlag, 2008. ISBN 978-3-85493-150-8

Ein allumfassender Begriff des "Roten Wien" meint alle Errungenschaften der seit nunmehr fast 100 Jahren wirkenden sozialdemokratischen Kommunalpolitik in Wien. Diese werden hier ebenso beschrieben wie die klassischen Wohnbauten der Zwischenkriegszeit und der Zeit des Wiederaufbaus nach dem Zweiten Weltkrieg.